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Was ist systemisch?

Viele Coaches und Berater bezeichnen ihre Arbeit als systemisch. Auch ich nenne mich systemischer Business Coach. Aber trotzdem wissen doch relativ wenige Menschen überhaupt, was das ist.
Einige Leute halten systemisch entweder für etwas esoterisches oder etwas aus der “Psycho-Ecke”. Systemisch wird auch gerne mit “systematisch” verwechselt, worauf übrigens ebenfalls mein Rechtschreibprogramm beharrt. Dabei haben die beiden Begriffe so gut wie nichts miteinander zu tun. Nachdem ich letzte Woche nun eine ziemlich schräge Definition gelesen habe (es geht also nicht nur dem Begriff “agil” so, dass er häufig missverstanden und missbraucht wird), denke ich, dass es wirklich Zeit ist, Ihnen liebe Leserinnen und Leser, das Ganze etwas näher zu bringen.
Also, was ist systemisch überhaupt?

Zunächst einmal gibt es keine abgeschlossene Theorie oder fertige Definition (wie bei den Agilisten übrigens auch). Viel mehr ist systemisch ein Umgang mit Komplexität in einer Weise, die das „Ganze“ im Blick hat. Es geht mehr um Entwicklungen und Wechselwirkungen als um einzelne Komponenten oder Zustände. In der heutigen Zeit steigender Vernetzung und Informationsflut und damit steigender Komplexität ist die systemische Sichtweise gerade für Manager, Berater und Organisationsentwickler so aktuell wie nie zuvor. Systemisches Denken hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte als eine Sammlung von Beiträgen von WissenschaftlerInnen verschiedener Disziplinen gebildet, wie etwa der Soziologie, den Wirtschaftswissenschaften, der Biologie oder der Psychologie. Und dieses Gedankengut wird immer wieder nach dem Stand der neuesten Forschung aufgegriffen, angepasst und weiterentwickelt*.
Systemisch leitet sich vom altgriechischen Begriff σύστημα (sýstema) ab. Als Definition könnte man sagen: Ein System ist eine strukturierte Gesamtheit von Elementen, die aufgrund eines gemeinsamen Zwecks oder einer gemeinsamen Aufgabe zusammengehören bzw. sich deswegen "nach Außen" abgrenzen. Es gibt vielerlei verschiedene Arten von Systemen, z. B. technische (Heizungsanlage), psychische (die “Psyche” eines Individuums), biologische (ein Bienenstaat), medizinische (unser “Kreislauf”) oder aber auch soziale Systeme. Letztere sind interessant für Führungskräfte, Manager, Coaches und deren KlientInnen. Daher möchte ich nun gezielt auf soziale Systeme eingehen.
Soziale Systeme kann man sich als Gebilde vorstellen, die durch Kommunikation von Individuen entstehen und sich durch Kommunikation am Leben erhalten. Beispiele dafür sind sind Projekte, Teams, Kernteams, Unternehmen, Peergroups, Freundeskreise, Familien, Vereine oder Communities. Neben den Systemen gibt es noch weitere Bestandteile des systemischen Ansatzes, von denen ich hier einige vorstellen möchte, die ich persönlich für besonders relevant halte.
Ein Mensch lebt niemals isoliert, außer es handelt sich um Robinson Crusoe. Er ist immer Teil verschiedener sozialer Systeme (Familie, Kollegen usw.). Und mit den Mitgliedern dieser Systeme steht er in ständigem Austausch. Daher ist Kommunikation auch ein zentraler Gegenstand in der systemischen Betrachtung. Kommunikation findet immer statt: verbal und non-verbal, durch Handlung und auch Nicht-Handlung. Kommunikation ist die Übertragung von Gedanken, Vorstellungen oder Meinungen von einer Person zu einer anderen Person. In der systemischen Sichtweise betrachtet man, wie wann und zwischen wem Kommunikation passiert, denn das sagt viel über das System, seine Funktionsweise und Spielregeln aus: Wer darf wann zu wem was sagen? Welche Haltungen und Meinungen liegen da zugrunde? Wer wird informiert und wer nicht?
Viele Probleme und Konflikte im Alltag gründen auf Missverständnisse oder Störungen in der Kommunikation. Wenn Individuen kommunizieren, dann tun sie das aus ihrer persönlichen Sichtweise heraus, wie sie sind und wie die Welt ist. Häufig ist uns allen nicht bewusst, dass das Gehirn eine sehr selektive Auswahl trifft, welche Informationen wahrgenommen und wie sie bewertet werden. Selbst bei der Beobachtung Dritter ist die Beobachtung subjektiv gefärbt. Daher kann man sagen: Menschen konstruieren sich ihre Wirklichkeit. Einige Wissenschaftler wie Paul Watzlawick haben sich intensiv mit “Konstruktivismus” auseinandergesetzt.
Konflikte entstehen häufig innerhalb einer Gruppe oder auch zwischen Gruppen, wenn unterschiedliche Wirklichkeitskonstruktionen aufeinander treffen und jeder für sich das Recht beansprucht, auf der Seite der objektiven Wahrheit zu stehen. Soziale Systeme entwickeln und organisieren sich von selbst, wenn sich Menschen zusammentun, um einen gemeinsamen Zweck, Sinn oder Aufgaben zu verfolgen. Das nennt man Autopoiese. Mit der Zeit bilden die Mitglieder eine gemeinsame Meinung und Wirklichkeit zu ihrem verbindenden Thema. Durch ihren Austausch und spezifische Interaktionen halten sie ihr “System” aufrecht. Das kann man beispielsweise beobachten, wenn Communities, Vereine oder Parteien entstehen. Einige Systeme halten sich lange, einige zerfallen wieder und aus den Teilen entstehen ggf. neue Systeme.
Die autopoietische Dynamik sollte man z. B. im Blick haben, wenn es um Fragestellungen rund um Führung, Gruppenzugehörigkeit, Entwicklung von Organisationen und den “Mindset” von Teams geht. Die systemische Betrachtungsweise geht davon aus, dass Menschen komplexe Gebilde sind, deren innere Verarbeitungsprozesse für uns weitestgehend unsichtbar sind. Das habe ich auch in meinem Beitrag zum Eisbergmodell beschrieben. In der Kommunikation muss man davon ausgehen, dass man nicht mit Gewissheit vorhersagen kann, wie die Reaktion des Gegenübers auf eine Nachricht sein wird. Umso mehr gilt dies, wenn mehrere Individuen in einem System miteinander interagieren. Hier dürfen wir nicht von linearer Reaktion ausgehen, sondern müssen komplexe Wechselwirkungen berücksichtigen. Gute Beispiele sind Entwicklungen in sozialen Netzwerken, wenn aus bestimmten Nachrichten Shitstorms oder Hypes entstehen und bei ähnlichen Nachrichten kaum eine Reaktion erfolgt. Es lässt sich einfach nicht mit Sicherheit vorhersagen, was passieren wird.
Sobald Menschen regelmäßig kommunizieren bilden sich mit der Zeit Interaktionsmuster heraus. Diese fußen auf den Annahmen, die die Individuen aufgrund ihrer Erfahrungen mit den anderen Teilen des Systems gebildet haben (Wirklichkeitskonstruktion) und den Reaktionen, die sie auf dieser Basis ihrerseits als passend finden (Zirkularität). In den meisten Fällen sind Muster gut und hilfreich. Manchmal jedoch hat man es mit einer Konfliktlage zu tun, die sich einfach nicht auflösen will oder mit einem System, das sich in einer bestimmten Haltung festgefahren hat. Dann ist es ratsam, sich die Interaktionsmuster und die dahinter liegenden Wirklichkeitskonstruktionen näher anzusehen.
Die gerade aufgeführten Faktoren Autopoiese, zirkuläre Interaktion und Musterbildung lassen erahnen, dass es schwer ist, den Zustand und vor allem die zukünftige Entwicklung eines Systems genau zu analysieren. Schließlich hat man es mit “Elementen” zu tun, die in einem kaum vorhersagbaren Austausch stehen in einem System, das sich im Zeitablauf ständig weiterentwickelt. Daher braucht es eine andere Betrachtungsweise: die Beschreibung von Unterschieden. Beispiele dafür sind Fragen wie: Auf einer Skala von 0 bis 10 – wie gut ist die Zusammenarbeit innerhalb des Teams aktuell. Und was müsste passieren, damit es einen Punkt besser würde? Mit solch einer Fragestellung lassen sich relativ leicht Lösungsräume finden, wie gegenwärtige Zustände verbessert werden können.
Hinter all diesen vorgestellten Elementen einer systemischen Sichtweise stecken viele weitere Modelle, Hypothesen und auch Methoden kluger Menschen, auf die ich an dieser Stelle nicht tiefer eingehen möchte. Was ich aber betonen möchte ist, dass aus der Beschäftigung mit der systemischen Denkweise im Laufe der Zeit eine bestimmte Haltung wächst. Aus dieser heraus kann man an komplexe Problemstellungen herangehen ohne sich zu sehr in Details oder festgefahrenen Zuständen zu verstricken.
Beispiele für eine systemische Haltung:
- Wir sind alle Teile von Systemen, die sich laufend (weiter-)entwickeln. Eine Veränderung kann immer nur in diesem Zusammenhang erfolgen. Habe daher immer den Kontext im Blick!
- Wir haben alle unsere eigene Wirklichkeit: es kann jederzeit auch anders sein! Erweitere die Zahl der Möglichkeiten!
- Wir interagieren in kommunikativen Mustern mit unseren Mitmenschen: unterbreche und verstöre dysfunktionale Muster!
- Komplexität lässt sich nicht klar fassen. Daher achte auf Unterschiede!
Diese und weitere Leitgedanken haben systemisch arbeitende Coaches und Berater im Kopf. Sie sind auch zentraler Bestandteil in meiner Coachingarbeit. Ich möchte damit schließen, dass systemisches Denken keinesfalls so eine trockene Angelegenheit ist, wie es vielleicht den Anschein macht. Gerade Perspektivenwechsel kann wirklich lustig sein. Daher ein Witz zum Schluss: Kommt ein Elefant in die Männersauna. Nachdem er sich längere Zeit schweigend umgesehen hat platzt es aus ihm heraus: “Wie, und damit müsst ihr essen?”
*Mehr Informationen zu den systemischen Quellen, aber auch den Komponenten der systemischen Theorie kann man im Buch “Systemische Werkzeuge für erfolgreiches Projektmanagement” finden.